Abschnittsübersicht

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    Bild aus halber Höhe in einem halbdunklen Labor auf Bechergläser, deren Flüssigkeiten neongrün leuchten.

    Ziele und Wege dieses Moduls – Nach den überfachlichen Barrieren werden in diesem Modul die fachspezifischen Barrieren im Fach Chemie in den Blick genommen. Das Erkennen der fachspezifischen Barrieren bildet eine weitere Grundlage für die passgenaue Planung von Unterricht für heterogene Lerngruppen. Dabei stehen die Fragen aus dem Werkzeug NinU-Schema nach Barrieren und / oder Herausforderungen im Zentrum der Diagnostik. Im Zusammenwirken mit den Werkzeugen des Lernstrukturgitters und des Universal Design of Learning entsteht schließlich ein strukturierter Weg der Unterrichtsplanung. 

    In diesem Modul erwarten Sie materialgebundene Aufgaben. Das Material enthält unter anderem Videografien aus zwei Unterrichtseinheiten in zwei unterschiedlichen Jahrgangsstufen. In der "Rotkohlstunde"  (Jahrgangsstufe 10 einer Hauptschule) geht es fachinhaltlich um das Entdecken von Rotkohlsaft als Indikator für saure, neutrale und alkalische Lösungen. Die "Metalleinheit" (Jahrgangsstufe 7 einer Hauptschule) hat als einen fachinhaltlichen Schwerpunkt die Sauerstoffübertragungsreaktion bei Kupferoxid und Kohlenstoff. 

    Die Lösung der Aufgaben ist so vielfältig wie die Heterogenität einer Lerngruppe. Das Ziel der Übung liegt in der Weiterentwicklung und Schulung Ihrer Wahrnehmung und der Sensibilisierung für die Vielfalt an Barrieren, die aus dem Fach heraus entstehen können. Themenschwerpunkte bereichern das Angebot und vertiefen bestimmte Aspekte des heterogenitätssensiblen Fachunterrichts.


    • Die Rotkohlstunde

      In der "Rotkohlstunde" geht es fachinhaltlich um den Einstieg in das Inhaltsfeld der Säuren und Basen. Mit dem Inhalt wird an die Erfahrungen aus der 7. Klasse angeknüpft, in der die Arbeit mit Indikatoren im Mittelpunkt stand. Im Anschluss werden Struktur-Eigenschafts-Beziehungen bei Säuren und Basen behandelt.

      Unter dem Link der digitalen Pinnwand der Rotkohlstunde finden Sie das gesamte Material zu der videographierten Stunde.


    • Die Metalleinheit

      In der "Metalleinheit" geht es fachinhaltlich um Sauerstoffübertragungreaktionen. Nach einer Orientierung im Feld verschiedener Metalle wird von den Schülerinnen und Schülern in einem Experiment Kupfer hergestellt. In der chemischen Reaktion wird Kupferoxid zerlegt und mit dem Sauerstoff wird Kohlenstoffdioxid gebildet.

      Kupferoxid + Kohlenstoff → Kupfer + Kohlenstoffdioxid

      Auf dieser digitalen Pinnwand finden Sie das komplette Material zur Metalleinheit.

      Auf dieser digitalen Pinnwand finden Sie das Arbeitsmaterial der Vorstunde. 


    • Für diese Übung liegen im Fortbildungsangebot Ihrer Bezirksregierung Videoausschnitte der "Rotkohlstunde" vor. Zudem werden Sie die Lehrkraft, die Lerngruppe sowie die besonderen Unterrichtsvoraussetzungen kennenlernen und erste Einschätzungen zu den vorliegenden Barrieren vornehmen, um anschließend diese ins Verhältnis zu einer Ihrer eigenen Lerngruppen zu setzen.
    • Arbeitsblätter werden häufig im Unterricht eingesetzt. In dieser Übung wird einige Aspekte der Gestaltung von Arbeitsblättern in der Blick genommen aus denen Barrieren für das Lernen entstehen können.

    • Die Durchführung selbst einfacher Experimente im Chemieunterricht bedeutet für Schülerinnen und Schüler oftmals eine starke Barriere. Das Ziel der Durchführung dieser Übung ist das Erkennen von Barrieren die in der Durchführung von Experimenten liegen im Vorfeld der Planung.

    •   Minimodul Sprachsensibler Chemieunterricht

      Chemie als Unterrichtsfach stellt Schülerinnen und Schüler rein sprachlich vor große Herausforderungen. Da gibt es beispielsweise die Vokabeln der Fachsprache oder bestimmte Redewendungen, die im Fach eine andere Bedeutung haben als im Alltag.

      In diesem Modul haben Sie die Möglichkeit sich mit den Barrieren und Chancen, die aus der Nutzung der Fachsprache entstehen, auseinanderzusetzen. Ziele dabei sind, die Sensibilisierung für die Nutzung von Sprache im Chemieunterricht zu stärken und das Kennenlernen erster Ansätze und die daraus entstehenden Barrieren abzubauen. 

    • Deutsch als Bildungssprache in allen Fächern. Wie wirken Alltagssprache und Bildungssprache im Unterricht zusammen? Unter welchen Bedingungen stellt die Nutzung der Bildungssprache oder der Sprache im Fachunterricht eine Barriere für die möglichen Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler dar? Welche Prinzipien sollten beachtet werden, damit Bildungssprache erfolgreich für das Lernen von Schülerinnen und Schülern eingesetzt wird? In dem Text werden viele Anregungen zu den o.g. Fragen beschrieben.

    •  Aufgaben 

    • Hier finden Sie Karten, die im Mystery genutzt wurden, zum nachträglichen Bearbeiten und Ausdrucken.

    • Hier finden Sie neben einer Zuordnungsaufabe zum Thema "Hürden und Herausforderungen im sprachsensiblen Chemieunterricht " einen Videoausschnitt aus der "Rotkohlstunde", in dem Sie die Verwendung von Wortspeichern beobachten und anschließend kritisch bewerten sollen.

    •  Vertiefungsmaterial 

    • Bei Interesse finden Sie hier weiterführendes Material, um die Inhalte zum Thema "Sprachsensibel Unterrichten im Chemieunterricht" zu vertiefen.


      Menschen sind verschieden, und das macht sich auch im Gebrauch von Sprache bemerkbar. Zum normalen sozialen Austausch in einer Gemeinschaft reicht die Alltagssprache, mit der Informationen, Wünsche, Ansichten und Meinungen ausgetauscht werden können. Spätestens mit dem Eintritt in die Schule werden Kinder jedoch mit Sprachelementen konfrontiert, die über die Alltagssprache hinausgehen. Notwendig wird der schrittweise Erwerb von Kompetenzen im Gebrauch einer Bildungssprache. Derartige Kompetenzen sind nicht nur für das schulische Lernen bei der kognitiven Verarbeitung neuer Informationen unverzichtbar, da Denken eng mit Sprache verknüpft ist. Sie werden auch mit Blick auf das Bildungsziel gesellschaftliche Teilhabe benötigt, um kognitiv anspruchsvolle und komplexe Zusammenhänge mental zu repräsentieren, zu verarbeiten und darüber angemessen zu kommunizieren [1].


      Sprache im naturwissenschaftlichen Unterricht

      Im angloamerikanischen Sprachraum werden dementsprechend die beiden Ebenen BICS (Basic Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) unterschieden. BICS bezieht sich auf Alltagssprache im persönlichen informellen Gespräch, etwa bei Unterhaltungen, Telefongesprächen, einfachen Mitteilungen in sozialen Medien usw.. CALP ist die Bildungssprache, die man vor allem in der Schule erwirbt. Sie muss Anforderungen erfüllen, die sich bei der Verarbeitung anspruchsvollerer Zusammenhänge stellen. Einige häufig genannte idealtypische Merkmale von BICS und CALP sind in folgender Übersicht dargestellt (vergl. z.B. [2]):


      Alltagssprache bildet sich ziemlich automatisch im täglichen Leben heraus, was je nach individuellem Umfeld aber auch schon zu großen Unterschieden in der Ausdrucksfähigkeit führen kann. Man nimmt an, dass sich Alltagssprache (z.B. als Zweitsprache) gut in einer Zeitspanne von sechs Monaten und zwei Jahren erlernen lässt.

      Bildungssprache erwirbt man nicht automatisch, sie ist das Ergebnis von längeren Lern- und Übungsprozessen, z.B. in der Schule. Als Zeit, die benötigt wird, um Bildungssprache verwenden zu können, wird häufig eine Zeitspanne von fünf bis acht Jahren des Lernens angegeben. Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache können sich häufig sehr gut in Alltagssituationen ausdrücken, haben jedoch Probleme, die Bildungssprache richtig zu benutzen. Menschen, die in ihrer Erstsprache schon mit Bildungssprache vertraut sind, haben deutlich weniger Probleme, die Bildungssprache einer Zweitsprache zu erlernen, sie finden sich daher in einer anderssprachigen Schullandschaft schneller zurecht (Projekt FÖRMIG, Gogolin & Lange, 2011, S. 110f). 

      Leisen [3] differenziert den Bereich der Bildungssprache noch in weitere Darstellungsformen aus, die nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind und sich teilweise überlappen. Bedeutsam ist, dass Elemente dieser Darstellungsformen in den einzelnen Fächern eine eigene Prägung besitzen. Die Fachsprache im Fach Deutsch unterscheidet sich von der in Chemie, die Symbolsprache im Fach Musik von der im Fach Physik. Bildsprache wird verwendet, um fachliche Sachverhalte in Bildern, Zeichnungen oder Bildfolgen zu illustrieren oder zu visualisieren und damit verständlicher zu machen. Eine nonverbale bzw. prozedurale Darstellungsform besteht etwa darin, dass man auf Gegenstände zeigt, Handlungen vormacht oder Funktionsweisen demonstriert. 

      Die Unterrichtssprache dient gewissermaßen als Vermittlerin zwischen Alltagssprache und den elaborierteren Sprachformen der CALP in den verschiedenen Fächern. Hier werden Schülerinnen und Schüler nach und nach mit fachspezifischen Begriffssystemen, Fachvokabular sowie mit konzeptionell schriftlichen Darstellungsformen und Sprachmustern und der Notwendigkeit ihres Gebrauchs vertraut gemacht. Der größte Teil des Unterrichts vom Klassengespräch bis hin zu Leistungsüberprüfungen ist in irgendeiner Weise sprachlich vermittelt. Das Erlernen fachlicher Sprachformen ist dabei als Zieldimension unverzichtbar, weil sich ansonsten grundlegende Ideen, Konzepte und Bezüge nicht darstellen ließen. Entwicklungsprozesse dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Es besteht die Gefahr, dass ein zu strikter und verfrühter Gebrauch von Fachsprache seitens einer Lehrperson Lernen eher behindert, weil für den Gebrauch von Fachsprache ein Verständnis der Bedeutung von Begriffen bzw. fachlichen Aussagen eine Voraussetzung ist.

      Diversität im sprachlichen Bereich findet man deshalb vor, weil Lernende im Verstehen und im Gebrauch von Bildungssprache unterschiedlich weit fortgeschritten sein können. Gründe dafür sind vielfältig. Sie können z.B. bedingt sein durch die jeweilige Individualentwicklung, etwa durch das Lebensalter, durch gemachte Erfahrungen, durch körperliche Eigenschaften sowie durch den Stand der kognitiven Entwicklung. Ein weiterer Faktor ist der soziale und familiäre Hintergrund, der sich u. U. an der Nähe der Eltern zur Bildungssprache, am sozioökonomischen Status einschließlich Wohnlage und Verfügbarkeit von Bildungsmedien oder auch am Zugang zu außerschulischen Lerngelegenheiten festmachen lässt. Bedeutsam ist auch die Einbettung in einen kulturellen Rahmen, wo regionale Besonderheiten wie Dialekte, besondere Lebens- und Sichtweisen und teilweise auch Rollenzuweisungen Einfluss nehmen.

      Fachbegriffe

      Das Erlernen einer naturwissenschaftlichen Unterrichtssprache bzw. Fachsprache ist nicht einfach. Nach Merzyn [4] begegnen Schülerinnen und Schülern in einer naturwissenschaftlichen Unterrichtsstunde mehr neue Fachbegriffe als im Fremdsprachenunterricht neue Vokabeln. Außerdem besitzen in einer Fremdsprache die meisten Wörter eine Entsprechung in der Muttersprache. Man lernt also eine neue Bezeichnung für ein vertrautes Konzept. In den Naturwissenschaften sind die meisten Begriffe neu, die dahinterliegenden Konzepte müssen erst einmal verstanden werden. Gelegentlich kollidieren Fachbegriffe auch mit Begriffen aus der Alltagssprache. Sie haben als Fachbegriffe u.U. eine völlig andere Bedeutung (z.B. Kraft, Stoff, Verbrennung). Hier kommt die Schwierigkeit dazu, angemessen zwischen Alltagsvorstellungen und fachlichen Vorstellungen umschalten zu können.

      Einen Begriff zu lernen heißt nicht nur, seine Bezeichnung zu kennen und vielleicht noch eine Definition angeben zu können. Wenn etwa ein Papagei Halleluja sagen kann, ist damit nicht unbedingt ein Bekenntnis zu einer religiösen Weltsicht verbunden. Naturwissenschaftliche Begriffe werden nicht in abgeschlossener Form übernommen, es handelt sich vielmehr um einen oft längeren Prozess der individuellen Aneignung bzw. Konstruktion. Involviert sind hierbei Erfahrungen, Abstraktionen, Vergleiche, Abgrenzungen, Klassifizierungen usw.  Die Bedeutung eines Begriffs erschließt sich erst in seiner Einbettung in variable Kontexte, in der Anwendung auf Vorgänge und Phänomene sowie in der Verknüpfung mit Handlungen und Subkonzepten, die sich zu einem Begriffsnetz zusammenfügen lassen. Bedeutsame naturwissenschaftliche Begriffe besitzen häufig eine hohe Komplexität mit einer großen Anzahl relevanter Zusammenhänge. Ein Beispiel für den mechanischen Kraftbegriff zeigt Abbildung 2.





      Abb. 2: Atomaufbau (Arbeitsergebnis einer Schülerin aus dem Chemieunterricht - Klasse 9) ((Übungsmöglichkeit: Erstellung von Concept Maps für einfache und für komplexere Fachbegriffe))

      Sprachmuster

      Naturwissenschaftliche Fachsprachen besitzen neben den spezifischen Begriffssystemen weitere Besonderheiten, die sie im Unterschied zur Alltagssprache schwerer verständlich machen. In der Fachsprache tauchen ungewöhnliche Redewendungen auf (miteinander reagieren, Kraft ausüben,  ...). Es werden in der Regel Aussagen kombiniert und Zusammenhänge hergestellt. Dieses führt zu komplexeren Satzstrukturen und äußert sich auch im häufigen Gebrauch von Adverbien, Konjunktionen, Pronomen, Präpositionen sowie Verweisen in Form von Rückwärts- und Vorwärtsbezügen. Typisch sind bestimmte Sprachhandlungen, die gleichermaßen in den Bereichen Hören und Sprechen sowie Lesen und Schreiben vorzufinden sind. Einen kurzen Überblick über dominante Sprachhandlungen gibt der Abschnitt Hinweise zur Sprachkompetenzentwicklung im Lernbereich des Kernlehrplans für die Naturwissenschaften der Hauptschule (ab S. 21) [5]. Hier sind auch Beispiele für sprachliche Elemente gelistet, die für ein passives und aktives Verständnis einer naturwissenschaftlichen Unterrichtssprache von Bedeutung sind.

      Es ist zu betonen, dass die Schwierigkeiten der naturwissenschaftlichen Fachsprachen nicht aus Willkür oder intellektueller Spielerei resultieren. Sie spiegeln vielmehr die grundlegenden Ziele der Naturwissenschaften wider, nämlich - möglichst objektiv und intersubjektiv überprüfbar - natürliche und technische Phänomene verstehen, erklären und vorhersagen zu können. Deshalb ist es z.B. notwendig, Sachverhalte präzise und eindeutig zu beschreiben, Kausalzusammenhänge und zeitliche Abfolgen zu verdeutlichen, eigene Deutungen und Meinungen klar kenntlich zu machen sowie anzugeben, mit welchem Grad von Sicherheit sich eine Aussage treffen lässt. Zur Einführung fachsprachlicher Elemente sollte deshalb gehören, dass man im Unterricht die Notwendigkeit dieser Elemente zu fachlichen Zielen in Beziehung setzt und reflektiert. Das Verständnis bestimmter Sprachstrukturen lässt sich dadurch parallel zu Einsichten in spezifisch naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen weiterentwickeln.

      Um Partizipation am Unterricht und die damit verbundene kognitive Verarbeitung fachlicher Informationen zu ermöglichen, ist es erforderlich, Lernprozesse unter Berücksichtigung der sprachlichen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler zu gestalten. Eine Überforderung durch einen unangemessen starken Gebrauch von Fachsprache ist dabei ebenso wenig angebracht wie eine mentale Unterforderung durch extreme Sprachvereinfachung oder ein Verzicht auf bildungssprachliche Weiterentwicklung (s. Leisen). Nach Vigotsky gelingt Lernen optimal in der so genannten Zone der proximalen Entwicklung, also in einem Bereich, in dem Anforderungen den bisher erreichten Lernstand gerade so weit überschreiten, dass die neuen Herausforderungen ggf. mit Unterstützung seitens der Lehrperson selbstständig bewältigt werden können.

      Nach Bohrmann-Linde [6] bedeutet dementsprechend die Berücksichtigung sprachlicher Anforderungen im Chemieunterricht ein Vorgehen nach den folgenden Schritten:

      1. Bedarfsanalyse: Analyse der sprachlichen Anforderungen für das geplante Unterrichtsvorhaben
      2. Lernstandsanalyse: Ermittlung des sprachlichen Vermögens der Lernenden
      3. Unterrichtsplanung: Konzeption von Lernmaterialien unter Verknüpfung fachlicher und sprachlicher Aspekte
      4. Unterrichtsinteraktion: Schaffen von Sprachanlässen, sprachliche Unterstützung, Auseinandersetzung mit Sprache

      Unterstützungsmaßnahmen werden auch als Scaffolding bezeichnet, nach der englischen Bezeichnung für Gerüst.Die didaktische Idee, die diesen Maßnahmen zugrunde liegt, ist im englischsprachigen Raum als Cognitive Apprenticeship bekannt. Wie ein Meister, der seinen Auszubildenden zunächst an einer prototypischen Situation zeigt, wie man bestimmte Probleme angeht und löst und den Nachwuchs dann zunehmend eigenständiger agieren lässt, dienen bewusst eingesetzte (Sprach-) Handlungen der Lehrperson als Modell, an dem sich Lernende orientieren können. Neben diesem langfristig angelegten Scaffolding kann ein Scaffold auch situativ als Lerngerüst dienen, je nachdem, an welchen Stellen individuell bedingt Unterstützung erforderlich ist. Ein solches Gerüst kann aus verschiedenen Arten von Hilfsmaterialien bestehen, in denen Lernende z.B. Angebote für verwendbare Wörter, Redewendungen oder Satzmuster erhalten. In dem Maße, wie sie die fachsprachlichen Anforderungen immer besser bewältigen, kann auf derartige Gerüste zunehmend verzichtet werden.

      Thürmann [7] gibt als eine wesentliche Strategie zur fachlichen Sprachentwicklung neben Scaffolding und einer Orientierung an Lernaufgaben mit fachlichen und sprachlichen Aspekten die Orientierung an fachtypischen Darstellungsformen und kognitiv-sprachlichen Grundfunktionen an. Fachtypische Darstellungsformen sollen nicht nur eingeübt werden, ihre Bedeutung für fachliche Kommunikation muss auch explizit thematisiert und reflektiert werden.

      Kognitiv sprachliche Grundfunktionen der „Sachfächer“ wurden von Thürmann [8] auf der Grundlage einer umfangreichen Analyse von Kernlehrplänen sowie Lehr- und Lernmaterialien mehrerer Bundesländer identifiziert. Dazu gehören die kognitiven Operationen (nicht im Sinne von Operatoren zu verstehen!) Benennen/Definieren, Beschreiben/Darstellen, Berichten/Erzählen, Erklären/Erläutern, Bewerten/Beurteilen, Argumentieren/Stellung nehmen sowie Simulieren/Modellieren

      Um für alle Lernenden Partizipation am naturwissenschaftlichen Unterricht zu ermöglichen, sind Sprachentwicklungsmodelle erforderlich, die einerseits für die Analyse von sprachlichen Hürden, andererseits für die Bewältigung sprachlicher Schwierigkeiten und die entsprechende Planung von Scaffolds hilfreich sind. Wie andere kognitive Anforderungen sind auch sprachliche Anforderungen durch die Dimensionen konkret-abstrakt sowie einfach-komplex bestimmt (vergl. z.B. [9]). Abstraktheit bezieht sich auf die Art der Denkprozesse, hier also die kognitiv-sprachlichen Operationen. Komplexität bezieht sich auf die Sprachstrukturen, die unterschiedlich vielschichtig sein können.  Schon auf der Wortebene können einfache, vertraute Wörter, zusammengesetzte Wörter, Fremdwörter oder spezielle Bezeichnungen vorliegen. Auf der Satzebene formuliert man außer Hauptsätzen auch sehr differenziert einzuordnende Nebensätze, manchmal auch ineinander verschachtelt, oder verwendet auf den Inhalt abgestimmte Tempi und Aktiv- Passivkonstruktionen.

      Wenn man kognitiv-sprachliche Grundfunktionen einerseits und Elemente sprachlicher Komplexität andererseits in eine hierarchische Ordnung bringt, lässt sich mit der folgenden Sprachentwicklungsmatrix ein Modell für eine langfristig angelegte sprachliche Entwicklung visualisieren. Auf der Achse der Komplexität lassen sich analog auch Elemente der Bild- und der Symbolsprache verorten (z.B. die Abbildung eines Becherglases oder das Symbol e für ein Elektron-):


      Die Sprachentwicklungsmatrix erinnert nicht zufällig an das Lernstrukturgitter, das für Unterrichtsplanungen verwendet werden kann. In beiden Fällen handelt es sich um Lernprozesse, deren kognitive Anforderungen durch die Dimensionen Komplexität und Abstraktheit bestimmt sind. Bestimmte kognitive Prozesse des Lernstrukturgitters besitzen dabei eine Affinität zu entsprechenden Sprachhandlungen. So dürften Sprachhandlungen wie Berichten/Erzählen oft bei der Kommunikation von Wahrnehmungen ausreichend sein, während bei höheren kognitiven Prozessen wie Begreifen oder Übertragen zunehmend der Gebrauch von Fachbegriffen und fachsprachlichen Strukturen erforderlich wird.

      Das vorliegende Schema kann einerseits dazu herangezogen werden, Sprachanforderungen eines Unterrichtsvorhabens zu analysieren und das Sprachvermögen von Lernenden einzuordnen. Andererseits können auf der Grundlage des Schemas auch in der Planung von Unterricht und der Gestaltung von Lernaufgaben sprachliche Anforderungen systematisch variiert werden, z.B. indem je nach bestimmendem Lernziel die sprachliche Komplexität reduziert wird oder indem für erkannte Schwierigkeiten entsprechende Scaffolds bereitgestellt werden oder indem wenig vertraute kognitiv-sprachliche Operationen im Unterricht zum Thema werden. Nicht zuletzt kann es auch verwendet werden, um zielgerichtet Unterstützungsmaterialien zu entwickeln und einzuordnen. Als Techniken, die für Sprachförderung im Fach hilfreich sind, nennt Thürmann [10] die folgenden stichwortartig aufgelisteten Maßnahmen:

      • Advance Organizer, Herstellen von Transparenz über sprachliche Erwartungen
      • Entschleunigung (Wartezeiten)
      • Vermeidung von fragend-entwickelndem Unterricht, Vermeidung von Kurzantworten, stattdessen aufgabenbasierter Unterricht, Einsatz von Lernaufgaben
      • Lehrkraft als bildungssprachliches Modell (cognitive apprenticeship)
      • Unterstützung bei Formulierungsbarrieren
      • Bereitstellung von Redemitteln und relevanter Begrifflichkeit bei Aufgaben
      • Erschließung textsortentypischer Sprachmuster, Textstrukturen und Darstellungsstrategien
      • Übernahme von kommunikativen Rollen (Lernen durch Lehren)
      • Ausweitung schriftgebundener Arbeitsformen
      • Bereitstellen von Redemitteln zur Textproduktion
      • Konstruktive Rückmeldung

      Der Erwerb naturwissenschaftlicher Kenntnisse ist untrennbar mit dem Erwerb fachsprachlicher und bildungssprachlicher Kompetenzen verbunden. In der Tabelle unten sind Beispiele für Kompetenzerwartungen des aktuellen Kernlehrplans SI Gymnasium Chemie aufgeführt, die sich in ähnlicher Form auch in anderen Kernlehrplänen der verschiedenen Schulformen finden. Es ist festzustellen, dass sprachliche Anforderungen nicht nur im Kompetenzbereich Kommunikation eine Rolle spielen, sondern sich explizit oder implizit durch alle Kompetenzbereiche ziehen. Insbesondere wird auf Sprachformen, Sprachstrukturen und Sprachhandlungen Bezug genommen. In den folgenden Abschnitten werden sprachliche Merkmale betrachtet, die für das individuelle Lernen und Verstehen der Naturwissenschaften bedeutsam sind.

      Kompetenzerwartungen  und Sprachhandlungen

      [1] Krabbe, H., Rincke, K., Aleksov, R. (2021). Language in Physics Instruction. In: Fischer, H.E., Girwidz, R. (eds) Physics Education. Challenges in Physics Education. Springer

      [2] Leisen, J. (2021): Sprache im sprachsensiblen MINT-Unterricht. Vortrag anlässlich der Jahrestagung der MNU 2021

      [3] Leisen, J. (2022): Prinzipien im sprachsensiblen Fachunterricht. Online verfügbar unter: http://www.sprachsensiblerfachunterricht.de/prinzipien (abgerufen am 01.12.2022)

      [4] Merzyn, G. (1998) Fachbestimmte Lernwege zur Förderung der Sprachkompetenz.

      Online verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/cms/upload/sprachsensibler_FU/Fachbestimmte_Lernwege_zur_Foerderung_der_Sprachkompetenz_Naturwissenschaften_Mercyn.pdf(abgerufen am 01.12.2022)

      [5] Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (2011): Kernlehrplan für die Hauptschule in Nordrhein-Westfalen. Online verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/85/NW_HS_KLP.pdf. (abgerufen am 01.12.2022)

      [6] Bohrmann-Linde, C. (2021): „Unter Spannung wird das Zink reduziert“ - Materialien zur Förderung der Fachsprache am Beispiel der Elektrolyse von Zinkiodid. Vortrag anlässlich der Herbsttagung 2021 MNU Westfalen

      [7] Thürmann, E. (2011): Deutsch als Schulsprache in allen Fächern. Konzepte zur Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen. S. 8 ff. Online verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3827. (abgerufen am 01.12.2022)

      [8] Thürmann, E. (2011): Lernen durch Schreiben? Thesen zur Unterstützung sprachlicher Risiko-gruppen im Sachfachunterricht. Online verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3828. (abgerufen am 01.12.2022)

      [9] Leisen, J. (2021): Sprache im sprachsensiblen MINT-Unterricht. Vortrag anlässlich der Jahrestagung der MNU 2021

      [10] Thürmann, E. (2011): Deutsch als Schulsprache in allen Fächern. Konzepte zur Förderung bildungssprachlicher Kompetenzen. S. 10 ff. Online verfügbar unter: https://www.schulentwicklung.nrw.de/materialdatenbank/material/view/3827. (abgerufen am 01.12.2022)