Bezug zu den Kernlehrplänen

Der Erwerb naturwissenschaftlicher Kenntnisse ist untrennbar mit dem Erwerb fachsprachlicher und bildungssprachlicher Kompetenzen verbunden. In der Tabelle unten sind Beispiele für Kompetenzerwartungen des aktuellen Kernlehrplans für die Sekundarstufe I der Gesamtschulen für die Fächer des Lernbereichs Naturwissenschaften aufgeführt, die sich in ähnlicher Form auch in anderen Kernlehrplänen der verschiedenen Schulformen finden. Es ist festzustellen, dass sprachliche Anforderungen nicht nur im Kompetenzbereich Kommunikation eine Rolle spielen, sondern sich explizit  oder implizit durch alle Kompetenzbereiche ziehen. Insbesondere wird auf Sprachformen, Sprachstrukturen und Sprachhandlungen Bezug genommen. In den folgenden Abschnitten werden sprachliche Merkmale betrachtet, die für das individuelle Lernen und Verstehen der Naturwissenschaften bedeutsam sind.

Kompetenzerwartungen und Sprachhandlungen (Beispiele aus dem "KLP für die Sekundarstufe I Gesamtschule für die Fächer des Lernbereichs Naturwissenschaften in Nordrhein-Westfalen", hier sind einige übergeordnete Kompetenzerwartungen der ersten Progressionsstufe angegeben) [1]

Schülerinnen und Schüler können...
UF2 Konzepte unterscheiden und auswählen: bei der Beschreibung naturwissenschaftlicher Sachverhalte Fachbegriffe angemessen und korrekt verwenden.
E1 Fragestellungen erkennen: naturwissenschaftliche Fragestellungen von anderen Fragestellungen unterscheiden. 
K1 Texte lesen und erstellen: altersgemäße Texte mit naturwissenschaftlichen Inhalten Sinn entnehmend lesen und sinnvoll zusammenfassen.
K7 Beschreiben, präsentieren, begründen: naturwissenschaftliche Sachverhalte, Handlungen und Handlungsergebnisse für andere nachvollziehbar beschreiben und begründen.
B1 Bewertungen an Kriterien orientieren: in einfachen Zusammenhängen eigene Bewertungen und Entscheidungen unter Verwendung naturwissenschaftlichen Wissens begründen.

 Diversität anerkennen

Menschen sind verschieden, und das macht sich auch im Gebrauch von Sprache bemerkbar. Zum normalen sozialen Austausch in einer Gemeinschaft reicht die Alltagssprache, mit der Informationen, Wünsche, Ansichten und Meinungen ausgetauscht werden können. Spätestens mit dem Eintritt in die Schule werden Kinder jedoch mit Sprachelementen konfrontiert, die über die Alltagssprache hinausgehen. Notwendig wird der schrittweise Erwerb von Kompetenzen im Gebrauch einer Bildungssprache. Derartige Kompetenzen sind nicht nur für das schulische Lernen bei der kognitiven Verarbeitung neuer Informationen unverzichtbar, da Denken eng mit Sprache verknüpft ist. Sie werden auch mit Blick auf das Bildungsziel "gesellschaftliche Teilhabe" benötigt, um kognitiv anspruchsvolle und komplexe Zusammenhänge mental zu repräsentieren, zu verarbeiten und darüber angemessen zu kommunizieren [2].




Im angloamerikanischen Sprachraum werden dementsprechend die beiden Ebenen BICS (Basic Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) unterschieden. BICS beziehen sich auf Alltagssprache im persönlichen informellen Gespräch, etwa bei Unterhaltungen, Telefongesprächen, einfachen Mitteilungen in sozialen Medien usw.. CALP ist die Bildungssprache, die man vor allem in der Schule erwirbt. Sie muss Anforderungen erfüllen, die sich bei der Verarbeitung anspruchsvollerer Zusammenhänge stellen. Einige häufig genannte idealtypische Merkmale von BICS und CALP sind in folgender Übersicht dargestellt [2]:

 Merkmale der Alltagssprache (BICS)                                

  • spontan 
  • situationsgebunden 
  • kontextgebunden 
  • emotional
  • einfach 
  • kognitiv wenig aufwändig 
  • ausschweifend und unpräzise
  • oft unstrukturiert 
  • wenig komplex
  • fehlertolerant

 Merkmale der Bildungssprache (CALP)

  • planvoll
  • situationsungebunden
  • kontextreduziert
  • emotionsfrei, objektiv
  • formgebunden 
  • kognitiv aufwändiger
  • prägnant und präzise
  • strukturiert
  • meistens komplex
  • nicht fehlertolerant

 

Die Alltagssprache bildet sich ziemlich automatisch im täglichen Leben heraus, was je nach individuellem Umfeld aber auch schon zu großen Unterschieden in der Ausdrucksfähigkeit führen kann. Man nimmt an, dass sich Alltagssprache (z.B. als Zweitsprache) gut in einem Zeitraum zwischen sechs Monaten und zwei Jahren erlernen lässt. 

Übung: Diktat

Hören und notieren Sie sich die beiden diktierten Sätze. Versetzen Sie sich in Lage eines Lernenden, der diese Fachbegriffe nicht kennt und diese nach einmaligem Hören verstehen und verschriftlichen soll. Machen Sie sich klar, wie schwierig diese Aufgabe für Lernende sein kann. 




Welche Erfahrungen haben Sie bei dieser Übung gemacht?


Bildungssprache erwirbt man nicht automatisch, sie ist das Ergebnis von längeren Lern- und Übungsprozessen. Als Zeit, die benötigt wird, um Bildungssprache verwenden zu können, wird häufig eine Zeitspanne von fünf bis acht Jahren angegeben. Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache können sich häufig mündlich sehr gut ausdrücken, haben jedoch Probleme, die Bildungssprache richtig zu benutzen. Menschen, die in ihrer Erstsprache schon mit Bildungssprache vertraut sind, haben deutlich weniger Probleme, die Bildungssprache einer Zweitsprache zu erlernen, sie finden sich daher in einer anderssprachigen Schullandschaft schneller zurecht (Projekt FÖRMIG, Gogolin & Lange, 2011, S. 110f). 

Leisen [3] differenziert den Bereich der Bildungssprache noch in weitere Darstellungsformen aus, die nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind und sich teilweise überlappen. Bedeutsam ist, dass Elemente dieser Darstellungsformen in den einzelnen Fächern eine eigene Prägung besitzen. Die Fachsprache im Fach Deutsch unterscheidet sich von der in  Biologie, die Symbolsprache im Fach Musik von der im Fach Physik.  Bildsprache wird verwendet, um fachliche Sachverhalte in Bildern, Zeichnungen oder Bildfolgen zu illustrieren oder zu visualisieren und damit verständlicher zu machen. Eine nonverbale bzw. prozedurale Darstellungsform besteht etwa darin, dass man auf Gegenstände zeigt, Handlungen vormacht oder Funktionsweisen demonstriert. Die Unterrichtssprache dient gewissermaßen als Vermittlerin zwischen Alltagssprache und den elaborierteren Sprachformen der CALP in den verschiedenen Fächern. Hier werden Schülerinnen und Schüler nach und nach mit fachspezifischen Begriffssystemen, Fachvokabular, sowie mit konzeptionell schriftlichen Darstellungsformen und Sprachmustern und der Notwendigkeit ihres Gebrauchs  vertraut gemacht. Der größte Teil des Unterrichts vom Klassengespräch bis hin zu Leistungsüberprüfungen ist in irgendeiner Weise sprachlich vermittelt. Das Erlernen fachlicher Sprachformen ist dabei als Zieldimension unverzichtbar, weil sich ansonsten grundlegende Ideen, Konzepte und Bezüge nicht darstellen ließen. Entwicklungsprozesse dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden.  Es besteht die Gefahr, dass ein zu strikter und verfrühter Gebrauch von Fachsprache seitens einer Lehrperson Lernen eher behindert, weil für den Gebrauch von Fachsprache ein Verständnis der Bedeutung von Begriffen bzw. fachlichen Aussagen eine Voraussetzung ist.

Diversität im sprachlichen Bereich findet man deshalb vor, weil Lernende im Verstehen und im Gebrauch von Bildungssprache unterschiedlich weit fortgeschritten sein können. Gründe dafür sind vielfältig. Sie können z.B. bedingt sein durch die jeweilige Individualentwicklung, etwa durch das Lebensalter, durch gemachte Erfahrungen, durch körperliche Eigenschaften sowie durch den Stand der kognitiven Entwicklung. Ein weiterer Faktor ist der soziale und familiäre Hintergrund, der sich u. U. an der Nähe der Eltern zur Bildungssprache, am sozioökonomischen Status einschließlich Wohnlage und Verfügbarkeit von Bildungsmedien oder auch am Zugang zu außerschulischen Lerngelegenheiten festmachen lässt. Bedeutsam ist auch die Einbettung in einen kulturellen Rahmen, wobei regionale Besonderheiten wie Dialekte, besondere Lebens- und Sichtweisen und teilweise auch Rollenzuweisungen Einfluss nehmen.