Ganz im Sinne der Aufforderung „Blicken Sie auf, horchen Sie auf!“, mit der Raymond Murray Schafer dazu einlädt, die Vielfalt der uns
umgebenden Klanglandschaften bewusst wahrzunehmen, beginnt die Unterrichtssequenz mit
einem Hörimpuls: Anhand eines winzigen Ausschnitts aus Hildegard Westerkamps Kits
Beach Sound Walk, der ohne jede Information zu seinem Kontext vorgespielt
wird, sollen die Schülerinnen und Schüler ihr eigenes Hören reflektieren.
Deswegen sollte die Lehrkraft vorab auf jede Charakterisierung des
Hörausschnittes verzichten – also auch auf die Nennung des Werktitels, des
Namens der Komponistin oder etwa auch auf die bloße Information, dass es sich
um einen Ausschnitt aus einer Soundscape-Komposition handelt. Es ist daher
sinnvoll, das Arbeitsblatt M1a an dieser Stelle des Unterrichts noch nicht
auszuteilen und den Hörauftrag in M1a, oberer Kasten stattdessen mündlich, per
Tafelanschrieb oder über die Kartenabfrage einer App wie ONCOO
zu erteilen, um zu vermeiden, dass die individuellen Hörprozesse durch
lenkende Informationen aus den Arbeitstexten beeinflusst werden. Aus dem
gleichen Grund sollten die individuellen Hörnotizen den anderen Kursmitgliedern
erst am Ende der Hörphase zugänglich gemacht werden. Mithilfe der Kartenabfrage
in ONCOO
ist dies möglich, indem hier die Voreinstellung so gewählt wird, dass die von
den Schülerinnen und Schülern abgeschickten Nachrichten erst nach Freigabe
durch die Lehrkraft angezeigt werden.
Der Vergleich der Hörbeobachtungen wird
durch das Anheften der beschrifteten Karten an eine Tafel oder Pinnwand oder
mittels ONCOO durch die Anzeige der virtuellen Karten auf einem
Online-Board vorbereitet. Die anschließende Diskussion der Beobachtungen hat
zwei Ziele: Hinsichtlich des Objekts stellt sich die Frage: Was war zu hören?
Welche Klänge waren identifizierbar? Wie lassen sie sich beschreiben und
kategorisieren? In welchem Zusammenhang stehen sie untereinander und worauf
verweisen sie möglicherweise? Damit gerät aber zugleich immer wieder auch das
hörende Subjekt und der je individuelle Hörprozess in den Blick: Welche der
genannten Klänge habe ich wahrgenommen, welche nicht? Wie deute ich die Klänge und ihren
Zusammenhang? Welche inneren Bilder, Assoziationen und Gefühle lösen die Klänge in
mir aus?
Die Diskussion und Clusterung der
Hörbeobachtungen sowie deren Kategorisierung mittels hinzugefügter Überschriften
dienen vor allem dazu, die Vielfalt möglicher Hörperspektiven bewusst werden zu
lassen – werden doch im intersubjektiven Austausch über das subjektiv Gehörte stets
auch vermeintliche Gewissheiten hinterfragt: Handelt es sich bei einem
bestimmten Laut um ein Wind- oder ein Wassergeräusch und wurde es gar
synthetisch erzeugt? War ein bestimmter Klang lauter oder leiser als ein
anderer? Wie lassen sich die Klänge kategorisieren? Nach ihren (mutmaßlichen)
innerweltlichen Klangquellen (z. B. Umweltlaute, menschliche Klänge,
Instrumentalklänge, maschinelle Geräusche), nach rein klanglichen Kriterien (z.
B. Klanghöhe und Dauer, Klangfarbe, dynamischer Verlauf), nach ihrer räumlichen
Anordnung (z. B. nahe und entfernte, bewegte und unbewegte Klänge) oder nach
ihrer Funktion (z. B. Gliederungsakzente, Klanghintergründe)? Und um welche Art von Aufnahme handelt
es sich bei dem Gehörten eigentlich: um unbearbeitete Umweltaufnahmen, um die in
einem Tonstudio zusammengemischte Klang-Atmo für einen Film beziehungsweise ein Hörspiel oder um
eine nach künstlerischen Kriterien gestaltete Klang-Collage?
Im Anschluss an die Beschreibung und Reflexion der Höreindrücke dient die
Erarbeitung der Sachtexte auf dem Arbeitsblatt M1a (Aufgabe 1 und 2) der Einführung des Begriffs des Soundscapes sowie
einer ersten Kontextualisierung des Hörbeispiels von Hildegard Westerkamp.
Der abschließende Hörauftrag (Aufgabe
3)
überträgt das bereits am Beginn der Unterrichtseinheit geübte Vorgehen auf eine
neue Situation: Dieses Mal kommen die Klänge nicht von einem Tonträger, sondern
sind verankert in der für die Schülerinnen und Schüler auch über andere Sinne unmittelbar wahrnehmbaren und außerdem
durch vorgängige Erfahrungen vertrauten Lebenswelt – es ist also zu erwarten,
dass die Identifikation der Klänge und Geräusche hier leichter fällt als im
Falle des Ausschnitts aus Hildegard Westerkamps Soundscape-Komposition.
Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit das aufmerksame Hören zum Entdecken
bisher unbemerkter, überhörter Klänge und damit zu einer veränderten
Wahrnehmung der scheinbar bekannten Umgebung führt.
Zur Schulung der Hörwahrnehmung könnte dieser
Hörauftrag den Auftakt für eine ganz Reihe von Hörübungen bilden, die
ritualartig die nachfolgenden Unterrichtseinheiten einleiten. Schafer hatte
1992 unter dem Titel A Sound Education eine Sammlung von einhundert
Übungen zum Hören sowie zur Klangproduktion publiziert (in Deutsch erschienen
als: Anstiftung zum Hören: Hundert Übungen zum ‚Hören‘ und ‚Klänge machen‘,
hrsg. von Justin Winkler, übers. Von Klaus Wittig, Aarau 2002), die hier als
Vorbild dienen könnte.
Arbeitsblatt M1b enthält in diesem Sinne die Zusammenfassung
ausgewählter Hörübungen, die – einzeln oder in Kombination – im unterrichtlichen Kontext verwendet werden können. Inhaltliche Zusammenhänge bestehen insbesondere zwischen den Übungen 1–3 (Kategorisierungsmöglichkeiten von Klängen), den Übungen 4–5 (Klangbewegungen), den Übungen 18–19 (akustische Identifizierbarkeit von Vertrautem), den Übungen 24–25 (verborgene Klangquellen). Alle Übungen – auch Übung 71 (Stille) – können je nach Bedarf modifiziert, erweitert und verkürzt werden.
Da Schafers Aufgaben gelegentlich auch Hinweise an die Lehrkraft enthalten, ist es nicht sinnvoll, das Arbeitsblatt M1b an die Schülerinnen und Schüler auszuteilen; es genügt, den Teilnehmenden die Aufgabenstellungen jeweils mündlich mitzuteilen.
Sinnvoll ist es, bei der Durchführung eines solchen Hörrituals im Anschluss an die eigentliche Übung immer eine Reflexionsphase einzuschieben, in der die Hörerfahrungen aufgearbeitet und begrifflich gefasst werden.