Musik - Soundscape – Klanglandschaften im Spannungsfeld von akustischer Ökologie und Komposition
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Fachlich-inhaltlicher Kontext
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Einführung
Die Entstehung der Soundscape-Komposition als musikalische Gattung verdankt diese ursprünglich weniger künstlerischen als wissenschaftlich-dokumentarischen Intentionen: Wesentlich geprägt wurde die Gattung durch den Komponisten und Klangforscher Raymond Murray Schafer (1933–2021), der gemeinsam mit anderen Komponisten und im Rahmen des sogenannten World Soundscape Projects zahlreiche Feldaufnahmen zur Dokumentation akustischer Umgebungen erstellte und im Sinne einer Klangökologie den Einfluss dieser Klanglandschaften auf die dortigen Lebewesen erforschte.
Doch dienten die Feldaufnahmen den Protagonisten des World Soundscape Projects nicht ausschließlich als empirische Basis für ihre wissenschaftliche Arbeit, vielmehr wurden sie von ihnen immer wieder auch als Klangmaterial für musikalisch-künstlerische Gestaltungen verwendet – zunächst vor allem in radiophonen Formaten, darüber hinaus aber auch im Sinne von Installationen und musikalischen Gestaltungen, wobei hier Gattungsgrenzen oft fließend sind.
Obwohl der Ansatz der Soundscape-Komposition durch den Rückgriff auf Klangmaterialien aus der Lebenswelt gewisse Parallelen zu anderen Genres der elektroakustischen Musik – insbesondere zur Musique concrète – aufweist, unterscheidet er sich von diesen doch zugleich deutlich in seiner ästhetisch-poetologischen Ausrichtung: Für die Musique concrète ist gerade der Gedanke ausschlaggebend, durch die elektroakustische Transformation sowie die kompositorische Anordnung der Klänge deren Herkunft zugunsten ihrer innermusikalischen Qualitäten zurücktreten zu lassen. Die grundsätzliche Identifizierbarkeit der Klänge im Kontext der Soundscape-Komposition ist insofern essentiell, als es den Komponistinnen und Komponisten aus dem Umfeld des World Soundscape Projects immer auch darum geht, bei den Zuhörenden eine Sensibilisierung, ein kritisches Bewusstsein für natürliche Klangumgebungen und deren Gefährdung zu schaffen.In der vorliegenden Unterrichtssequenz werden daher in vier Modulen einerseits die charakteristischen Gestaltungsmerkmale von Soundscape-Kompositionen und andererseits der konzeptuelle Hintergrund dieses Genres fokussiert:Anstiftung zum Hören (Modul 1, Unterrichtsstunde 1–2)Anhand eines kurzen Klangbeispiels aus Kits Beach Soundwalk von Hildegard Westerkamp (*1946) sowie eines Textausschnitts von Raymond Murray Schafer kommt es zu ersten Bestimmungen des Begriffs "Soundscape". Die Rede ist hier allerdings noch nicht von einer musikalischen Kunstform (im Sinne einer Soundscape-Komposition), sondern vielmehr von lebensweltlichen Klangumgebungen in ihrer ganzen Fülle – eine Fülle, die freilich nur dem zugewandt Lauschenden bewusst wird. Schon hier wird kenntlich, dass das Hören ein komplexer Vorgang ist, bei dem je nach Hörperspektive und in verschiedenen Graden der Gewissheit ganz unterschiedliche Merkmale einer Klanglandschaft wahrgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Schafer im Hinblick auf eine Sensibilisierung für akustische Umgebungen großen Wert auf eine Schulung des Hörens legte und dazu auch zahlreiche Übungen entwickelte, die auch im unterrichtlichen Kontext einsetzbar sind.
“…we leave the city behind…”: Kits Beach Soundwalk for spoken voice and 2-channel audio von Hildegard Westerkamp (Modul 2, Unterrichtsstunde 3–8)Kits Beach Soundwalk (1989) von Hildegard Westerkamp kann als ein paradigmatisches Werk im Bereich der Soundscape-Komposition aufgefasst werden:Im ersten Drittel dieses knapp 10-minütigen Stückes bleibt die zugrundliegende Feldaufnahme – Naturklänge und entfernte Großstadtgeräusche, aufgenommen am Kitsilano Beach in Vancouver – stets präsent, und auch ohne Kenntnis des Werktitels ist die Identifizierung der Klangquellen beziehungsweise deren lebensweltliche Verortung („Strandatmosphäre“) grundsätzlich problemlos möglich. Es erscheint als charakteristisch für den radiophonen Kontext, in den das Stück ursprünglich eingebettet war – es handelt sich um einen Beitrag für die Sendereihe Soundwalking des Vancouver Co-operative Radio –, dass zu dieser Klanglandschaft bereits nach ca. 20 Sekunden die Stimme der Komponistin hinzutritt: Sie lokalisiert die Aufnahme zunächst räumlich sowie zeitlich und beschreibt dann die spezifische Atmosphäre des Aufnahmeorts. Dabei fokussiert sie zunehmend auf die klanglichen Ereignisse, die in der Feldaufnahme festgehalten sind, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den leisen, kaum wahrnehmbaren Geräusche von Seepocken im Meerwasser zum menschengemachten Lärm, der aus der entfernten Stadt zu hören ist.
Dabei thematisiert die Sprecherin in ihrem teilweise durchaus poetischen, Metaphern reichen und lautmalerischen Text immer wieder subjektive Veränderungen des Hörens, die aus der jeweiligen Ausrichtung ihrer Aufmerksamkeit resultieren. Diese illustriert sie durch entsprechende und im Text ausdrücklich benannte elektroakustische Modifikationen der zugrundeliegenden Feldaufnahme in Form von dynamischen Veränderungen, Filterungen sowie Equalizing.
Im weiteren Verlauf des Stückes wird die Feldaufnahme dann allerdings stärker verfremdet, ohne dass dabei freilich ihre lebensweltliche Herkunft ganz unkenntlich würde: Der Klang der Seepocken löst in der Sprecherin Assoziationen an fünf Träume aus, in denen ähnliche Klänge eine zentrale Rolle spielen. Auf klanglicher Ebene vermischt Westerkamp nun die modifizierte Feldaufnahme mit verwandten elektronisch generierten Klängen sowie Ausschnitten aus Kompositionen von Iannis Xenakis und Wolfgang Amadeus Mozart. In ihrem Text spricht die Komponistin diesen Klangträumen eine heilende Wirkung zu, die es ihr ermöglichen, sich der durch den Stadtlärm repräsentierten Wirklichkeit der modernen Lebenswelt zu stellen.In Kits Beach Soundwalk wird also die für Schafers Klangökologie zentrale Sensibilisierung für die hörbare Umwelt und für akustische Umweltverschmutzung zu einem expliziten Thema. So verwundert es nicht, dass Westerkamps Stück in der einschlägigen Forschung zum Bereich Soundscape schon früh Beachtung fand: etwa bei dem Klangforscher David Kolber, der Kits Beach Soundwalk als ein Werk auffasste, das die Zuhörenden zu einer Reflexion über ihren "Platz in der Welt" anrege und zugleich gegenüber der in den industrialisierten Kulturen der Moderne quasi allgegenwärtigen Erfahrung des Alltagslärms "Hoffnung und Einsicht" vermittele.
→Unterrichtsmaterialien für Modul 2
Raymond Murray Schafers Konzept der „akustischen Ökologie“ und das World Soundscape Project (Modul 3, Unterrichtsstunde 9–12)Seit den späten 1960er-Jahren arbeitete Raymond Murray Schafer an der Untersuchung der akustischen Lebenswelt, um im Sinne einer Klangökologie die Problematik der in modernen, industriell geprägten Gesellschaften fast allgegenwärtigen Lärmbelästigung darzustellen und in das allgemeine Bewusstsein zu rücken. Zu diesem Zweck erstellte er mit einem Team von Mitarbeitern, zu denen unter anderem die Komponistin Hildegard Westerkamp sowie die Komponisten Howard Broomfield, Bruce Davis, Peter Huse und Barry Truax gehörten, zahlreiche Feldaufnahmen unterschiedlicher Klangumgebungen, die er als „Soundscape“ bezeichnete. Er wertete die gesammelten Daten aus, indem er beispielsweise das Lautstärkeprofil bestimmter Gegenden in sogenannten Isobel Maps kartographierte.
In seiner berühmten Schrift The Tuning of The World hat Schafer 1977 wesentliche Aspekte seines klangökologischen Konzepts theoretisch dargelegt: So differenziert er grundlegende klangliche Komponenten von Soundscapes ihren akustischen Eigenschaften entsprechend in „Grundton“, „Signallaut“ und „Orientierungslaut“, beschreibt diese aber auch in ihrer sozialen Funktion und kulturellen Codierung. Zudem skizziert er die historische Entwicklung von ländlichen zu städtisch-industriellen Kulturen als eine Geschichte von der sogenannten „Hi-fi-Klanglandschaft“ zur „Lo-fi-Klanglandschaft“. Als Konsequenz aus seiner Diagnose, die moderne Lebenswelt kranke an „Lautüberflutung“, fordert er die interdisziplinäre Entwicklung von „Akustikdesigns“: in der Verknüpfung akustischer, psychologischer, soziologischer und musikalischer Einsichten sollen so die Klanglandschaften, in denen sich der Mensch der Gegenwart bewegt, verbessert werden.
→Unterrichtsmaterialien für Modul 3
Der Klang unserer Lebenswelt (Modul 4, Unterrichtsstunde 13–18)Seit den ersten Aktivitäten des World Soundscape Projects haben sich mit der Entwicklung der technischen Medien auch die Gestaltungsmöglichkeiten von Soundscapes weiterentwickelt: Waren Werke wie Westerkamps Kits Beach Soundwalk noch an die Aufzeichnung auf analogen Speichermedien (tragbare Tonband- und Kassettenrecoder) gebunden, so realisierte der Klangkünstler Bill Fontana (*1947) mithilfe moderner Satelliten-Übertragungstechnik sogenannte Live-Klangskulpturen, in denen er am Mischpult die Klänge weit auseinanderliegender Orte verknüpfte.
Durch die Etablierung und Vernetzung digitaler Medien im Lebensalltag ergeben sich heute ganz neue Möglichkeiten Soundscapes aufzuzeichnen, miteinander zu verknüpfen und zugänglich zu machen: So widmet sich das 2014 von dem Komponisten Ludger Brümmer (*1958) am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe ins Leben gerufene Projekt My City, My Sounds der interaktiven Präsentation urbaner Klangräume. Mithilfe einer Webanwendung sowie einer App können Klänge und Umweltgeräusche aufgenommen, auf einer Online-Landkarte hinterlegt und zu Audiowalks verbunden werden. Klangkünstler und Komponisten haben im Rahmen des Projekts Installationen, Soundwalks und Performances realisiert; dank des niedrigschwelligen Zugangs können aber alle Interessierten mittels eines mobilen Endgeräts künstlerische, dokumentarische oder spielerische Beiträge zu diesem interaktiven Klangarchiv hinzufügen. Im Sommer 2023 waren auf der Online-Landkarte bereits mehr als 1800 Dateien mit geographischen Schwerpunkten unter anderem in Argentinien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kanada, dem Libanon, Portugal, Spanien, Südkorea, den Vereinigten Staaten und Zypern verortet worden.
Es bietet sich also an, diese globale Dokumentation um die Soundscapes der Schülerinnen und Schüler zu bereichern.
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